News
News vom 24.02.12: Deutscher Ethikrat legt Stellungnahme zur Intersexualität vor
Der Deutsche Ethikrat stellte am 23.02.12 in Berlin seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vor. Darin gibt er auf gut 200 Seiten einen Überblick über die Situation von Intersexuellen und Empfehlungen für Mediziner, Gesetzgeber und Gesellschaft. Hintergrund des Auftrags ist die Aufforderung des UN-Ausschusses zur Überwachung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) an die deutsche Bundesregierung, in einen Dialog mit intersexuellen Menschen zu treten und Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen.
Der Ethikrat hatte im Vorfeld bereits am 23.06.10 ein "Forum Bioethik" und am 08.06.11 eine öffentliche Anhörung durchgeführt, ebenso einen "Online-Diskurs Intersexualität" und eine Sachverständigenbefragung. Auch der Deutsche Bundestag befasste sich bereits im November letzten Jahres mit einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Thema Intersexualität (siehe unten).
Hintergrund zur Intersexualität
Wie der Ethikrat in seiner aktuellen Stellungnahme ausführt, bezieht sich der Begriff Intersexualität auf Menschen, die sich aufgrund körperlicher Besonderheiten nicht eindeutig als "männlich" oder "weiblich" einordnen lassen. In Deutschland leben nach Schätzungen zwischen 80.000 und 120.000 solcher Menschen, deren Chromosomen, Geschlechtsorgane, Hormone oder Keimdrüsen nicht alle demselben Geschlecht zuzuordnen sind. "Jährlich kommen zwischen 120 und 350 Kinder mit besonderen Genitalien zur Welt", erklärte Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen e.V.
"Der Begriff Intersexualität wird in der Öffentlichkeit für unterschiedliche Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung verwendet. Teilweise werden auch Menschen darunter gefasst, die sich selbst nicht als intersexuell verstehen und sich sogar gegen diesen Begriff verwahren", heißt es in dem Papier. Der Ethikrat verwendete daher in seiner Stellungnahme DSD (differences of sex development) als medizinischen Oberbegriff für alle Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung. "Die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen von DSD bringen jeweils besondere Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen mit sich. Sie erfordern eine differenzierte ethische und rechtliche Bewertung", heißt es in der Einleitung.
Der Deutsche Ethikrat kommt zu der Auffassung, dass intersexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand immer wieder die Frage, ob chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen von Menschen mit Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung und insbesondere bei betroffenen Kleinkindern überhaupt zulässig sein sollten.
Probleme medizinischer Eingriffe
In seiner Stellungnahme differenziert der Ethikrat zwischen "geschlechtsvereindeutigenden" und "geschlechtszuordnenden" Eingriffen, die unterschiedlich zu bewerten seien. Mit einem vereindeutigenden Eingriff ist die Korrektur einer biochemisch-hormonellen Fehlfunktion, die potenziell einen gesundheitsschädigenden Charakter hat, gemeint. Gegebenenfalls kann auch ein operativer Eingriff zur Angleichung des äußeren Erscheinungsbildes an das genetisch und durch die inneren Geschlechtsorgane feststehende Geschlecht gemeint sein. Demgegenüber greifen geschlechtszuordnende Interventionen sehr viel weiter in die Persönlichkeit des Kindes ein, da bei vorliegender Unbestimmbarkeit von Eltern und Ärzten entschieden wird, zu welchem Geschlecht die Zuordnung erfolgen soll.
"Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei Menschen mit uneindeutigem Geschlecht stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar. Die Entscheidung darüber ist höchstpersönlich", stellt der Ethikrat klar. Daher empfiehlt er, dass grundsätzlich die die Betroffenen selbst entscheiden sollten. "Bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen sollten solche Maßnahmen nur erfolgen, wenn dies nach umfassender Abwägung aller Vor- und Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich ist. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn die Maßnahme der Abwendung einer konkreten schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder das Leben der Betroffenen dient", so der Ethikrat.
Wenn, wie im Falle des sogenannten Adrenogenitalen Syndroms (AGS), das Geschlecht festgestellt werden kann, soll bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen die Entscheidung über die operative Angleichung der Genitalien an das Geschlecht nur "nach umfassender Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor- und Nachteile einer frühen Operation" erfolgen. Maßgeblich sei auch hier das Kindeswohl, so die Empfehlung des Ethikgremiums. Im Zweifel solle auch bei solchen "geschlechtsvereindeutigenden" Eingriffen die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen abgewartet werden.
Medizinische Diagnostik und Behandlung
Mit Blick auf die medizinische Diagnostik und Behandlung von DSD-Betroffenen, empfiehlt der Ethikrat, dass diese nur in einem speziell dafür qualifizierten interdisziplinär zusammengesetzten Kompetenzzentrum von Ärzten und Experten aus allen beteiligten Disziplinen vorgenommen werden sollte. "Die fortlaufende medizinische Betreuung soll in unabhängigen qualifizierten Betreuungsstellen bei gleichzeitiger Beratung durch andere Betroffene sowie Selbsthilfeeinrichtungen fortgeführt werden. Alle Behandlungsmaßnahmen sollten umfassend dokumentiert werden und den Betroffenen für mindestens 40 Jahre zugänglich sein. Die Regelungen zur Verjährung bei Straftaten an einem Kind sollten auf solche Straftaten erweitert werden, durch die die Fortpflanzungsfähigkeit und/oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit irreversibel beeinträchtigt wurde", heißt es weiter.
"Viele Betroffene sind in ihrer personalen Identität aufs Tiefste verletzt durch die früheren Behandlungen, die nach heutigen Erkenntnissen nicht (mehr) dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik zugerechnet werden können und auf ausgrenzenden gesellschaftlichen Vorstellungen von geschlechtlicher Normalität beruhten. Sie haben Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten", verdeutlicht der Ethikrat das Problem. Er empfiehlt daher ein Fonds zu errichten, um den DSD-Betroffenen Anerkennung und Hilfe zukommen zu lassen. Darüber hinaus sollten Selbsthilfegruppen und Betroffenenverbände öffentlich finanziell gefördert werden.
Männlich, weiblich, anderes
Der Ethikrat ist zudem der Auffassung, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht "weiblich" noch "männlich" zuordnen können, rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen. Es sollte daher nach Auffassung des Ethikrates geregelt werden, dass von diesen Personen neben der Eintragung als "weiblich" oder "männlich" auch "anderes" gewählt werden kann bzw. dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat.
Um Personen, die im Personenstandsregister als "anderes" eingetragen sind, die Möglichkeit einer Beziehung zu eröffnen, die staatlich anerkannt und rechtlich geregelt von Verantwortung und Verlässlichkeit geprägt ist, schlägt der Ethikrat mehrheitlich vor, Menschen mit dem Geschlechtseintrag "anderes" die eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen. Ein Teil des Ethikrates plädiert darüber hinaus dafür, ihnen auch die Möglichkeit der Eheschließung zu eröffnen. Als Grundlage für künftige Entscheidungen des Gesetzgebers sollte geprüft werden, ob eine Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt noch notwendig ist, so der Ethikrat abschließend.
Reaktionen auf die Stellungnahme
In den Medien war das Thema Intersexualität und die Stellungnahme des Ethikrates das biopolitische Thema der Woche. Gleichwohl beschränkten sich die Berichte insbesondere der Agenturen im Wesentlichen auf die Forderung nach einer Änderung des Personenstandsregisters hin zu einer "anderen" Angabe. Von Seiten der Politik kamen nahezu keine Kommentare, weder zustimmend noch ablehnend. In Leitmedien wurde dagegen das Thema Intersexualität und die Schicksale, die sich dahinter verbergen, intensiver beleuchtet und diskutiert. Mehr dazu in der Presseschau unten.
Weiterführende Informationen:
Presseschau zur Ethikrat-Stellungnahme zur Intersexualität
Pressekonferenz: Ethikrat veröffentlicht Stellungnahme "Intersexualität" am 23. Februar 2012
PRESSEMITTEILUNG Deutscher Ethikrat 17.02.12
"Es müsste eigentlich normal sein"
Der Ethikrat berät über Intersexualität
Von Michael Hollenbach
DEUTSCHLANDRADIO 18.02.12
Nicht Mann, nicht Frau
Der Deutsche Ethikrat wird in der kommenden Woche seine Stellungnahme zum Thema Intersexualität abgeben. Die zentrale Frage ist: Sollen wir ein drittes Geschlecht einführen?
Danielle Bengsch
WELT AM SONNTAG 19.02.12
Frauen, Männer und Intersexuelle: Gibt es bald ein drittes Geschlecht in Deutschland?
Tausende Menschen in Deutschland sind weder Mann noch Frau, sondern intersexuell. Über die Rechte von Zwittern entscheidet morgen der Deutsche Ethikrat.
von Anna Vonhoff
FOCUS-Online 22.02.12
23. Februar 2012
Intersexuelle Menschen anerkennen, unterstützen und vor gesellschaftlicher Diskriminierung schützen
Der Deutsche Ethikrat stellt am heutigen Donnerstag in Berlin seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vor. Er ist der Auffassung, dass intersexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen. Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden.
PRESSEMITTEILUNG (IDW) Deutscher Ethikrat 23.02.12
Presseerklärung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) zur Stellungnahme “Intersexualität” des Deutschen Ethikrats vom 23.02.2012
Der Deutsche Ethikrat hat seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme zur Verbesserung der Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen veröffentlicht. IVIM begrüsst, dass der Ethikrat sich für eine finanzielle Förderung von Inter*- Organisationen ausspricht und die Peer-Beratung stärken möchte.
PRESSEMITTEILUNG Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) 23.02.12
Ethikrat-Empfehlungen beachten und Rechte für Intersexuelle Menschen schaffen
"Wir müssen akzeptieren, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Mit der Stellungnahme des Ethikrats wird endlich der Fokus auf die Menschenrechte von intersexuellen Menschen gerichtet, die in der Vergangenheit so schwer verletzt wurden", erklärt Barbara Höll, Sprecherin für Lesben- und Schwulenpolitik der Fraktion DIE LINKE
PRESSEMITTEILUNG DIE LINKE. im Bundestag 23.02.12
Intersexualität: Ethikrat will mehr als zwei Geschlechter
Für Menschen ohne eindeutiges Geschlecht soll die Kategorie "anderes" eingeführt werden, fordert der Deutsche Ethikrat.
TAGESSPIEGEL 23.02.12
Intersexualität: Ethikrat nimmt Ärzte in die Pflicht
Ärzte Zeitung 23.02.12
Intersexuelle: Ethikrat will ein bisschen mehr als zwei Geschlechter...
Oliver Tolmein
FAZ.NET Blog Biopolitik 23.02.12
Geschlecht "anders" – Heirat ausgeschlossen
Der Ethikrat hat ein drittes Geschlecht für Intersexuelle vorgeschlagen. Doch wer diesem angehören möchte, schränkt möglicherweise entscheidend seine Rechte ein.
Danielle Bengsch
WELT Online 23.02.12
Intersexualität: Ethikrat empfiehlt Angabe des "dritten Geschlechts"
Matthias Kamann
Wer weder Frau noch Mann ist, muss sich künftig nicht auf Ämtern entscheiden: Der Ethrikrat empfiehlt, dass beim Geschlecht auch "anderes" gewählt werden kann.
WELT Online 23.02.12
Intersexualität: Ethikrat empfiehlt ein drittes Geschlecht
von Katrin Hoerner und Anna Vonhoff
Jedes Jahr kommen in Deutschland einige Hundert Babys zur Welt, die nicht eindeutig weiblich oder männlich sind. Der deutsche Ethikrat fordert jetzt, ein drittes Geschlecht einzuführen.
FOCUS-Online 23.02.12
Ethikrat sieht Intersexuelle nicht mehr als Kranke per se
Der Ethikrat hat sich zur Situation intersexueller Menschen geäußert. Trotz guter Vorschläge löst der Rat aber auch die aktuelle Behandlungspraxis nicht völlig auf.
Von Britta Verlinden
ZEIT Online 23.02.12
Intersexualität: Der Umgang mit dem "Middlesex"
Von Frank Patalong
Der Deutsche Ethikrat wagt sich an ein Tabuthema: In einer an diesem Donnerstag vorgestellten Expertise dokumentiert er die Situation von Intersexuellen und gibt Empfehlungen für Gesetzgeber, Mediziner und Gesellschaft. Es könnte der Beginn einer Integration der Betroffenen sein.
SPIEGEL Online 23.02.12
Schluss mit dem Blau-Rosa-Denken!
Kommentar zur Intersexualität
Von Nadja Erb
BERLINER ZEITUNG 23.02.12
Deutscher Ethikrat zu Intersexuellen: Mehr als männlich oder weiblich
SUEDDEUTSCHE.DE 23.02.12
"Genitaloperationen müssen verboten werden"
Interview zur Intersexualität
TAGESSCHAU 23.02.12
"Betroffene wurden auf Tiefste verletzt"
Ethikrat zu Intersexualität
Der Deutsche Ethikrat hat den Umgang mit intersexuellen Menschen in der Vergangenheit verurteilt und Entschädigungen für die Folgen von Operationen empfohlen.
TAGESSCHAU 23.02.12
Ethikrat für die Einführung eines dritten Geschlechts
Berlin – Der Deutsche Ethikrat hat sich für die Einführung eines dritten Geschlechts ausgesprochen.
AERZTEBLATT.DE 23.02.12
24. Februar 2012
Kommt die dritte Kategorie bei der Geschlechtsangabe?
Deutscher Ethikrat: "Es sollte geregelt werden, dass bei Personen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Eintragung als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ auch ‚anderes‘ gewählt werden kann".
KATH.NET 24.02.12
Das "andere" Geschlecht
Der Ethikrat hat seine Stellungnahme zum Thema Intersexualität veröffentlicht. In Zukunft soll es ein drittes Geschlecht geben.
Danielle Bengsch
DIE WELT 24.02.12
Intersexualität: Männlich, weiblich, anderes
Abwarten vor geschlechtszuordnenden Korrektureingriffen: Der Ethikrat nimmt Stellung zum Leben zwischen den Geschlechtern.
Von Adelheid Müller-Lissner
TAGESSPIEGEL 24.02.12
Die dritte Kategorie
Kein Zwang bei der Geschlechtszuordnung
Kommentar von Ulrike Baureithel
TAZ 24.02.12
Weder männlich noch weiblich
Intersexualität: Bei der Geburt muss schnell entschieden werden, welches Geschlecht das Kind hat. Obwohl dies nicht immer möglich ist, fordert das der Gesetzgeber. Für Betroffene hat dies oftmals katastrophale Folgen
Von Ulrike Baureithel
TAZ 24.02.12
Das "dritte" Geschlecht
Weihbischof Losinger zum Umgang mit Intersexuellen
DOMRADIO 24.02.12
Weder weiblich noch männlich
Ethikrat verabschiedet Stellungnahme zur Intersexualität
Psychologe Michael Wunder im Gespräch mit Arndt Reuning
DEUTSCHLANDFUNK 24.02.12
CSU gegen "drittes Geschlecht"
Berlin – Die CSU-Landesgruppe im Bundestag lehnt die vom Deutschen Ethikrat geforderte Einführung eines „dritten Geschlechts" ab.
AERZTEBLATT.DE 24.02.12
Nach oben
|